„Man müsste so schreiben können wie Alfred Polgar, um zu beschreiben, wie er schrieb.“
Dieser Satz von Reich-Ranicki, einer der großen Verehrer des Wiener Feuilletonisten und
berühmten Caféhausliteraten der 20er Jahre, ist natürlich eine Verlockung, um ihn nach
dem exquisiten Auftritt von Senta Berger ein wenig umzuwandeln: „Man müsste so
schreiben können wie Alfred Polgar, um zu beschreiben, wie sie spielt.“
Beide Formulierungen können aber zum Ausdruck bringen, dass das Lindauer Publikum
bei der Eröffnung der Theatersaison in hohem Maße mit geistvollen Texten und großer
Schauspielkunst verwöhnt wurde – beides flankiert mit Musik, die so recht zur heiteren
Grundstimmung passte.
Damit dies so bleibt, warb Kulturamtsleiter Alexander Warmbrunn in seiner Begrüßung für
den neu zu gründenden „Förderverein KulturLindau“. Getreu seiner Überzeugung, dass
Kultur „kein Gimmick, sondern Bestandteil unserer Gesellschaft“ sei, will er mit dieser
Initiative seinen Teil dazu beitragen, das bürgerliche Engagement zu stärken, um politisch
notwendigen Einsparungen verantwortungsvoll zu begegnen.
Doch zurück ins Theater. Dort nämlich spielt die Musik. Zumindest dann, wenn es gerade
nicht um noch Wichtigeres geht. Und das ist in diesem Fall und an diesem Abend die
Liebe, jedenfalls überwiegend. Dazu muss man wissen, dass die kleinen Geschichten
hierzu von eben jenem Manne stammen, dessen Credo so lautete: „Ich glaube an das
Gute im Menschen, rate aber, sich auf das Schlechte in ihm zu verlassen.“ Gefundenes
Fressen also für eine andere Meisterin der klug gesetzten Zwischentöne, die deren weisen
Gehalt nicht demonstrativ hervorhebt, sondern ihn charmant und augenzwinkernd
serviert. Senta Berger belegt unentwegt, weshalb sie ihren „Meister der kleinen Form“ so
liebt, dem schon Leute wie Joseph Roth oder Kurt Tucholsky größte Hochachtung
entgegenbrachten. Man ist versucht, Goethes unbelegten Ausruf „Ja, ja, die Liebe!“ als
ironische, aber gewichtige Referenz heran zu ziehen, um Polgars Auslassungen ebenso
pointiert zu beschreiben. Eine gestandene Liebesbeziehung sentimental zu beschreiben
ist demnach nicht sein Ding, ihr verlässliches Grundfundament in ihrer Alltäglichkeit
behutsam zu decodieren umso mehr. Und Senta Berger schenkt ihm kraft ihrer eigenen
Lebenserfahrung und ihres frappanten Könnens stilsichere Gestaltungskraft, die sie mit
leiser Ironie ausschmückt. Mögen Eifersucht, lustvolle Mordgedanken und reizvolle
Versuchungen den allseits drohenden Ehetrott begleiten – Alfred Polgar und Senta Berger
bleiben verlässliche Garanten, um den literarischen Protagonisten solcher Anwandlungen
nicht böse zu sein und den Zuhörern darüber kein schlechtes Gewissen zu machen.
Beide sind sie wahre Meister der taktvollen Beschreibung, die garniert ist mit Humor und
unaufdringlicher, stets poetischer Zuspitzung.
Wenn die Berger dann am Schluß doch noch auf ihr heimatliches Wien und den
betrunkenen Mann im Heurigen zu sprechen kommt, dann wird das in der Tat zu einem
schauspielerischen Schmankerl, das den Beginn der „Geburt der Tragödie aus dem Geist
der Musik“ wohl in seiner umwerfendsten Form darstellt: Senta Berger in gestischer und
mimischer Hochform, vereinzelt geradezu derb und lallend, das ganze Umfeld des
Heurigen-Umfelds in virtuosen Sequenzen beschreibend. Spätestens hier wird sichtbar,
wie sehr die musikalischen Beiträge des Klenze-Quartetts den dramaturgischen Verlauf
dieses herrlichen Saisonauftaktes mitbestimmen: Jubel und Begeisterung allenthalben –
und die Gewissheit, dass mit dieser „Wiener Melange“ ein Einstieg zur Theatersaison
erfolgte, der den bereits ausgelösten Appetit auf die folgenden Aufführungen wohl noch
größer machen dürfte.
14.Oktober 2014