LINDAU – Vor drei Jahren hat uns Siggi Zimmerschied von den finanziellen Sorgen berichtet, die er als „Scheißhaus Sepp“ hatte, um den übernommenen Familienbetrieb – ein öffentliches Klo – weiterzuführen. In seinem neuen Programm „Hirnrisse“ sind es nicht die unterschiedlichen Stuhlgänge, an denen er die Menschen erkennt, sondern die Anzahl der Stahlnägel, die sie sich ins Hirn geschossen haben.
„Vor kurzem“, so beginnt Zimmerschied seine zornigen Attacken, „schoss sich ein Amerikaner mit einer Nagelmaschine zwölf Stahlstifte in den Kopf, ohne dass bleibende Schäden entstanden wären. „Es wird unbehaglich, denn achtzig Minuten lang wird er nun auch das Publikum in „Einser“ – sehr erstrebenswert – „Vierer“, „Sechser“ und Folgende einteilen, tja, und als „Zwölfer“ hat man eben das Stadium erreicht, wo die Verblödung ihren Höhepunkt erreicht hat, wo keinerlei Verantwortungsgefühl mehr herrscht und Asozialität zum Prinzip wird.
Vorstufen hierzu kennt der „Neuner“, doch es bleibt offen, ob da nun auch schon der „ausgehungerte niederbayerische Gemeinderat“, Florian Silbereisen oder die ganze Riege von RTL, BMW, CSU und BWL dazu gehören. Ganz in der Tradition von Reich-Ranicki, den er in einer hinreißenden, leider allzu kurzen Phase imitiert, erklärt er jedenfalls das Fernsehen als „größtes Nagelstudio der Welt“ und er scheut sich auch nicht, den „Zwölfer“ als „Metamorphose des Menschen zum Beamten“ zu bezeichnen.
Siggi Zimmerschied hat noch immer seine Lieblingsfeinde und so bekommen Papst und Kirche, Huber und Co. und der Bayer an sich ihr obligatorisches Fett weg („Der Bayer ist keine Delikatesse, er ist eine Dampfnudel“). Er hat nach wie vor keine Scheu vor den Grenzbereichen im Kabarett, wo dann tagespolitisch untermauerte Sätze Vorkommen können wie diese: „Gegen Dauerarbeitslosigkeit war der Heldentod schon immer eine Alternative“ und „es gibt heute doch mehr fettleibige Kinder als verhungerte“, oder wenn er gar die weitaus größere Bereitschaft zum Selbstmordattentat in der arabischen Welt gegenüber der unseren damit begründet: „Man trifft hinterher doch lieber auf 77 Jungfrauen als möglicherweise auf zwei pädophile Internatsleiter.“
Ornithologen sollen helfen
Das ist starker Tobak, doch nimmt man Siggi Zimmerschied seine ungebrochene Lust an der Provokation und seine Angst vor dem „Weg ins kollektive Analphabetentum“ jederzeit ab. Dies umso mehr, weil er seine sprach- gewaltigen Tiraden mit schauspielerischem Können und unnachahmlicher Mimik garniert. Zum Beispiel dann, wenn er dem Sprachzerfall vieler Jugendlicher, die er mit „erste Playstation-Generation“ tituliert, damit begegnen möchte, dass er zur Dechiffrierung ihrer Laute künftig einen Ornithologen einsetzen möchte – Testversuche mit dem Publikum erweisen sich hier durchaus als Ermutigung für dieses Unterfangen.
Als der intelligente, oftmals groteske Spuk dieses Kabarettabends zu Ende geht, obwohl doch noch vier Minuten „fehlen“, zeigt Siggi Zimmerschied in einer wunderbar gespielten Mischung aus Überdruss und Professionalität, wie mitreißend eine Zugabe sein kann, die eigentlich gar keine sein sollte.