LINDAU – Mehr als 400 Zuhörer bei einem Kabarett- allerhand für Lindauer Gepflogenheiten, und zugleich eine Ermutigung zu mehr politischem Kabarett! Daß die ehemalige DDR für den Begriff „Distel“ gottlob Gewichtigeres zu bieten hat als überforderte Politiker, demonstrierten die über zwei Dutzend Nummern des gleichnamigen Berliner Kabaretts. Ob seine Resolution, doch auch bei Politikern das Leistungsprinzip einzuführen, einfach nicht ernst genommen wurde?
Doch gemach. „Johnny Walker for president“: mit diesem Synonym für alle kapitalistische Unbill weideten sich die Kabarettistin Gisela Oechelhaeuser – zugleich Intendantin und Regisseurin – und ihre beiden männlichen Kollegen Gert Kießling und Michael Nitzel genußvoll an den vielen Angriffsflächen ihrer neuen, der westlichen Ideologie. Ihr Verarbeitungsmaterial wurde in den neuen Verhältnissen nicht geringer, sondern meist nur umbenannt. Vom „Bundesnachrichten-Unterdrückungsdienst“ war da die Rede, von den so gern gepflegten Vorurteilen gegen Amerika, Reiche, polnische Autodiebe und potente Neger, von neuen Überwachungsmethoden („wie legen keine Akten an, uns reichen Ihre Daten“) und vornehm verpackter Zensur: so geriet das „literarische Trio“ mit dem hinreißenden Michael Nitzel als Reich-Ranitzki zu einem imitatorischen Highlight, der den selbstherrlichen Unfehlbarkeitsanspruch des Originals als recht perfide Methode entlarvte, vor der manche Ostzensur allenfalls dumm dasteht.
Es ist hier nicht der Raum, auf alle einzelnen Szenen einzugehen; anders als Theater entzieht sich nach Meinung des Rezensenten politisches Kabarett ohnehin den dort geltenden Kriterien; entweder es versteht sein gesellschaftspolitische Handwerk, und die kritisch-satirischen Anspielungen sitzen, oder aber es gelingt ihm nicht. So betrachtet war das Distel-Ensemble über jeden Zweifel erhaben.
Zwei Auftritte, spielerisch und thematisch besonders imponierend, seien dennoch erwähnt: Gisela Oechelhaeuser ging in „Das gute und das böse Biest“ auf die sie verwirrenden Rivalitäten im Bosnienkrieg ein, um über die Erkenntnis, daß es „normale und anerkannte Diktatoren“ gäbe, und „falsche Leichen böses Blut“ machten, schließlich einzusehen, daß natürlich immer die Partei im Recht sei, die dem Kapitalismus gegenüber am empfänglichsten ist. Gert Kießling endlich beeindruckte sowohl gestisch als auch sprachlich in der Szene „Zur Sache, Herr Kanzler“, trefflich assistiert vom unterwürfigen Michael Nitzel als Fragen-Geber des privaten Fernsehsenders; hier wurde offenbar, wie unerläßlich die Mittel des Kabarett sind, um so fragwürdige Szenarien wie jene Interviewfarce vor Augen zu führen.
Das Berliner Kabarett-Theater versäumte entsprechend seines Auftrittsortes nicht, immer wieder auch auf bayerische Eigenheiten anzuspielen („Bayern feiert nix als Bayern“). So blieb nicht nur die ironische Auseinandersetzung eines ehemaligen Ost-Kabaretts mit den neuen politischen Verhältnissen spannend, sondern auch die mit den geradezu exotischen Eigenarten mancher Bundesländer.
Mehrere erklatschte Zugaben (griechisch, bayerisch, „nieder-bayerisch…) waren Bestätigung für eine gelungene Darbietung politischen Kabaretts.