Möglichkeiten eines Tourneetheaters sattsam genutzt
Die übertriebene Sorge vor Brechts erhobenem Finger ist beim „Kaukasischen Kreidekreis“ von jeher unangebracht, die vitale Inszenierung Christoph Brücks trat ihr noch zusätzlich entgegen. Vor vollem Haus – darunter einigen ebenso interessierten wie disziplinierten Schulklassen – beendete das Ensemble der Landgraf’schen Konzertdirektion die theaterlose Durststrecke mit Brechts vierzig Jahre altem Schauspiel. Eingedenk der oft sich blutlos auswirkenden Vorgaben, die da heißen „Verfremdungseffekt“ und „episches Theater“, gewinnen – allen Absichten zum Trotz! – die Neugierde und Anteilnahme am Schicksal der Magd Grusche und des Armeleute-Richters Azdak schon bald die Oberhand.
Daß sich das in vortrefflich ausgewählten Kostümen auftretende Ensemble dabei jederzeit der dichterischen Intention gegenüber verantwortungsbewußt zeigte, erwies sich bereits beim Vorspiel, wo sich das „Kolchosen-Ensemble“ daran machte, „mehrere Weisheiten“ miteinander zu mischen, hinfort also in „neuer“ Maske zu spielen, um schließlich die beiden zunächst getrennt verlaufenden Geschichten der Grusche und von Azdak im Schlussteil virtuos zusammenzuführen.
Kraftvoll kommentierte Peter Brause den ersten Teil als einnehmender Sänger, dem in Jürg Luchsinger ein versierter Akkordeonspieler zur Seite stand; dessen einfühlsames Spiel stand allerdings etwas im Widerspruch zu seiner darstellerischen Harmlosigkeit.
Die Richter-Figur Peter Brauses hingegen sah sich dann vor allem im zweiten Teil praller Spiellust ausgesetzt, die schier zu bersten drohte. Ihm gelang es, diese schillernde, ambivalente Erscheinung glaubhaft vorzuführen. Mit wohldosiertem Einsatz gestattete er sich sympathische Übertreibungen, verbal und agitatorisch. Der spürbare Tempozuwachs im zweiten Teil war denn auch besonders seinen Auftritten zu danken. Susann Uge, die als Grusche Vachnadze den größten Teil der Handlung bestimmte, trug Wesentliches zum Erfolg der Aufführung bei. Auch wenn sich ihre Wandlung von der etwas einfältigen Magd zur liebenden, zugleich kämpferischen Mutter vor allem im ersten Teil noch in etwas ungleichen Sprüngen vollzog, fesselte sie immer wieder durch die Intensität ihrer Darstellung; diese zeigte sich besonders eindrucksvoll in ihrer Zerrissenheit gegenüber ihrem Verlobten, aber auch in ihrer stets spürbaren Entschlossenheit, den Knaben der Gouverneurswitwe durchzubringen. Leider erweckte manches kretinhafte Gebaren in Haltung und Grimasse den Eindruck, als sei die Grusche möglicherweise nicht ganz richtig im Kopf – was dieser Rolle im Grunde nicht bekommt.
Der dritte im Bunde derer, die zusammen mit Azdak und der Grusche ohne Maske spielen konnten, war Hans-Jürgen Pabst als Verlobter. Auch er fiel durch eine starke Bühnenwirkung auf und erreichte besonders in den Dialogen mit Susann Uge große Überzeugungskraft. Die zahlreichen Mitwirkenden in den Masken setzten sich immer wieder bedeutungsvoll in Szene, ohne dabei aufdringlich zu werden. Ihrem gut durchdachten Bewegungsspiel kam das unspektakuläre, aber effiziente Bühnenbild entgegen, das stimmig mit der Beleuchtung korrespondierte. Besonders die Szenen auf der Hängebrücke sowie im Dampfbad unterstrichen dies und trugen zur Lebendigkeit dieser Brecht-Inszenierung bei.
Alles in allem eine Aufführung, die die Möglichkeiten eines Tourneetheaters sowie die der Lindauer Bühne sattsam zu nutzen wußte.