LINDAU – Das Adventskonzert hat der Kammerchor Lindau ganz ohne Orchester und mit nur einem Solisten bestritten. Gleichwohl brachte Kantor Lutz Notiert mit der „Weihnachtsgeschichte“ von Hugo Distier ein Stück nach St. Stephan, das zu den bedeutendsten Chorwerken des vergangenen Jahrhunderts zählt. Dabei verblüffte der Kammerchor auch durch das stimmliche Potenzial der Chorsolisten.
Dass Bachs „Weihnachtsoratorium“ ein größerer Zuschauermagnet sein würde als diese gleichermaßen kostbare, aber 200 Jahre jüngere „Weihnachtsgeschichte“ aus dem unseligen Jahr 1933, wird den Verantwortlichen bewusst gewesen sein. Entsprechend konzentrierten sich die Zuhörer dieses Mal auf die vielen Plätze des Mittelschiffs, das dann aber auch bis in die hinteren Reihen besetzt war.
Viel Konzentration und das übliche, mehr als einstündige „Stehvermögen“ war dann auch bei den Sängern des Kammerchors gefragt, die sich diesmal nicht nur den großen Herausforderungen dieses komplexen Werkes stellten, sondern auch denjenigen der drei Motetten aus der „Geistlichen Chormusik“ von Heinrich Schütz. Sie bildeten nämlich den gleichermaßen logischen wie eindrucksvoll dargebotenen Auftakt zu einem Adventskonzert, das die bekannten Qualitäten des Kammerchors von Beginn an ins rechte Licht rückte (anders im Übrigen als das helle Licht im Chorraum dahinter, welches manches Gesicht im davorstehenden Chor nur im Schatten erkennen ließ): lebendiger Schwung, geschmeidige Stimmführung und inbrünstige Darstellung, wie sie etwa die Motette „Das Wort ward Fleisch“ zu so schöner Entfaltung kommen ließ.
Manch heikler Beginn, den der Sopran allein zu stemmen hatte, klang zunächst noch leicht indifferent und nicht ganz so homogen wie gewohnt (etwa bei der letzten Schütz-Motette), doch sollte sich das bei ähnlich exponierten Stellen der nun folgenden „Weihnachtsgeschichte“ bald legen; umso strahlender präsentierte sich diese mit so viel prächtigen Stimmen ausgestattete Stimmgruppe im Anschluss, und sie wurde ebenbürtig flankiert von den zuverlässigen, überaus beweglichen und präsenten Männerstimmen und den Damen im Alt, die einmal mehr ihr Gespür für Klangbalance und weiche Farbtöne erkennen ließen: verdienter Lohn einer mehrmonatigen Probenarbeit, die sich natürlich in erster Linie auf die Erarbeitung des Werkes von Hugo Distier bezog.
Hier nun zeigte sich der Kammerchor mit seiner Erfahrung, seiner Wachheit und seinem Einfühlungsvermögen, das ihm unter der bald 20-jährigen Leitung ihres Dirigenten Lutz Nollert zugewachsen ist. All die Kontraste dieses reich gegliederten Werkes, seine vielfachen Takt- und Tonartenwechsei, rhythmischen Veränderungen und schwierigen Intervallsprünge meisterten die Sänger mit beachtlicher Sicherheit.
Hugo Distier hat auch deswegen auf dieses ungewohnte rhythmische Geflecht gesetzt, um die Verständlichkeit, die Betonung und den Sinn des zugrunde liegenden Textes hervorzuheben. Gerade die sieben kunstvollen Choralvariationen über „Es ist ein Ros entsprungen,“ die im Zentrum des Werkes stehen, sorgten so für Bewunderung und Ergriffenheit – um wie viel mehr die eindrucksvollen Soloauftritte von Katharina von Glasenapp, Eva Berschl, Solvejg Röhr und Paul Kind, die ihre Partien souverän, klangschön und sogar mit gestalterischem Anspruch versahen; dass dann Hermann Klein seinen Abschied beim Kammerchor mit einem bewunderungswürdigen Auftritt als Simeon krönen durfte, wird ihm wohl als besonders schöne Erinnerung an seine Kammerchorzeit erhalten bleiben.
Beifall belohnt große Leistung
Hervorgehoben werden muss aber vor allem Bernhard Hunziker, der sich als würdiger und einfühlsamer Partner des Kammerchores erwies. Das warme und charaktervolle Timbre seiner Tenorstimme, mit der er die zahlreichen Rezitative versah, prädestiniert ihn geradezu für die Rolle des Erzählers. Dass er obendrein mit seiner Stimmgabel für den Beibehalt der rechten Tonhöhe garantierte, die immerhin über mehr als 40 Minuten beibehalten werden musste, sei ebenso lobend erwähnt. Der herzliche Beifall am Ende war Ausdruck für eine großartige Leistung, mit der Lutz Nollert, der Kammerchor und Bernhard Hunziker jenes musikalische Zeichen gesetzt haben, das der Weihnachtszeit manchmal fehlt.