Konflikt zwischen Wunsch und Abweisung
Wie diesen Konflikt lösen? Da entspringen der Phantasie eines Dichters jene sechs schicksalsbeladenen Personen, ganz lebendig, und er verliert einfach das Interesse an ihnen, weil sie zunächst nicht in sein philosophisches Bild passen: er weigert sich daher, sie leben zu lassen; diese wiederum, einmal lebendig geworden, denken gar nicht mehr daran, sich hinfort die Welt der Literatur vorenthalten zu lassen. Sie platzen nun in eine leidige Theaterprobe, wo sie am ehesten jemanden vermuten, der die abgebrochene Geschichte – einziger Sinn ihres Daseins – zu Ende bringen könnte.
Mit einer auf den Nerv gebrachten Auseinandersetzung mit dem anspruchsvollen Pirandello-Thema ging die Theatersaison vor einem gut besetzten Haus in ihre letzte Runde.
Horst Sachtleben, der auch der Rolle des Theaterdirektors seine ganze Konzentration lieh, inszenierte dieses „Drama wider Willen“ in einer überarbeiteten, großzügig gestrichenen Form und legte damit die Sicht auf dessen Absicht umso deutlicher frei.
Sympathisch begründete das Programmheft das Fehlen der beiden Kinder, die als stumme Rollen durch große Puppen ersetzt wurden; der Verzicht auf die sonst herbei beschworene Bordellmutter, Madame Pance, war wohl eher ein Tribut an die Sparzwänge des Theaters, mit dem sich leben läßt.
Horst Sachtleben gestaltete die Herausforderungen seiner Rolle – hier genervter Direktor eines Provinztheaters, da gefesselt von der Möglichkeit, zum Verfasser eines Dramas zu werden, dabei stets den philosophischen Gehalt der sich abspielenden Diskussionen zusammenfassend – mit der natürlichen Eleganz eines Theatervollblutes. Seine Reaktionen erfolgten beherzt, aber kontrolliert.
Ernst Jacobi, als Vater auch Initiator der autorensuchenden Gruppe, war ihm ein unbequemes Gegenüber, das seine Überzeugungskraft durch intimes, aber selbstbewußtes Spiel gewann, welchem er geradezu den Anstrich von Sendungsbewusstsein verlieh. Sein Aufbäumen gegenüber der „niederträchtigen“ Haltung seiner Tochter, die er als Freier in seinem Etablissement durch den überraschenden Auftritt seiner früheren Frau wiedererkennen muß, geht nahe: „Sie hat mich an einem Ort und bei einem Tun erwischt, an dem und bei dem sie mich nicht hätte sehen dürfen. Und aufgrund eines flüchtigen, beschämenden Augenblicks in meinem Leben will sie mir eine Wirklichkeit zuweisen, von der ich nie erwartet hätte, daß ich sie einmal von ihr annehmen müsste.“ Mit geradezu sarkastischem Genuss gelingt Pia Hänggi ihr qualvolles Treiben gegenüber Vater und Bruder (überzeugend: Thomas Luft), die sie beide verachtet, um sich gleichsam zu verwandeln, wenn es um die Mutter und ihre zwei kleinen Geschwister – beide am Ende des Stückes tot – geht.
Doris Jensen ist als Mutter, die die Suche des Familienoberhauptes nach einem Autor für ihr angefangenes Drama nicht versteht, geschweige denn mitspielen möchte, fast zu dramatisch angelegt, um auch die geistige Schlichtheit dieser Frau zu entfalten.
Natalia Gram und Wilhelm Seledec, die als einfache und eitle Schauspieler ohnehin das Wenigste zu begreifen haben, färben ihre Rollen bewußt zu einer üppigen „Schmiere“, die den Kontrast zur Ernsthaftigkeit der anderen Darsteller und des Themas gerade noch aushält.
Alexander Diepold, der Souffleur und Mädchen für alles darstellte, scheint dagegen frei von derlei gewollten Allüren zu sein.
Es ist ein Verdienst dieser Aufführung, die beiden zentralen Themen des Stückes deutlich herausgearbeitet zu haben: zunächst das Drama der sechs auftretenden Personen auf der verzweifelten Suche nach einem Autor und ihre Abweisung, was einer Verweigerung ihres Rechts auf Leben gleichkommt. Denn die philosophische Überzeugung Pirandellos, dass sich ein Mensch nicht nach einer einzigen Tat beurteilen läßt, sondern je nach Lebenssituation immer wieder ganz neu und anders entscheiden kann und somit keinesfalls eine ein für allemal festgelegte Einheit darstellt.
Der Knall einer Pistole, in Selbstmordabsicht abgefeuert vom kleinen Bruder, beendet jäh und grausam die vage Hoffnung, es ließe sich doch noch ein geeigneter Autor finden. So endet ein beeindruckendes Stück, das durch seinen Konflikt zwischen Wunsch und Abweisung zum Drama wurde, in der Schwebe zwischen Erfindung und Wirklichkeit.